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Liebe Leserinnen und Leser,

 

vor geraumer Zeit (DMP 24/2004) gab es schon einmal eine Ausgabe mit dem Titel „Musikunterricht von der Musik aus“. Gemeint war und ist das Bemühen, die Beschäftigung mit Musik aus den Angeboten und Anregungen der musikalischen Gegenstände zu entwickeln und zu betreiben.
Unter Unterricht ist dabei nicht eine beliebige Art der Beschäftigung mit Musik zu verstehen wie etwa das Hören im Konzert oder zu Hause, wie eigenes Musizieren, wie das Erleben von Musik als Kulisse in der Umwelt, sondern als eine pädagogische Veranstaltung. Pädagogisch nenne ich eine Veranstaltung, die bestimmt ist von Lernen und Lehren, gerichtet auf Erwerb von Wissen und Können, die aufbauende Chancen anbietet, die auf Zusammenhang und Beziehung tendiert, die von  Reflexion auf das eigene Tun durchtränkt ist, die über die interne Beschäftigung mit den Gegenständen hinausgreift auf das Leben und Interesse der Betroffenen sowie auf den weiteren kulturellen, historischen und strukturellen Umkreis der Musik.
„Diskussion Musikpädagogik“ nimmt das Thema aus zwei Gründen wieder auf: als Antwort auf Bitten von Leserinnen und Lesern, und wegen der in Vergessenheit geratenen Bedeutung, die der Ansatz „von der Musik aus“ (allgemeiner: der Ansatz der Pädagogik „von den Sachen aus“) im Kreise, im Wettstreit oder als Widerpart anderer Ansätze hat.
Die Frage nach der Entscheidung, wodurch die Beschäftigung mit Musik, verstanden als eine Unterrichtsveranstaltung, „motiviert“ – wörtlich: „in Bewegung gesetzt“ – wird oder werden sollte, lässt sich als ein pädagogisches Spiel betreiben. Leider wird diese Frage oft jedoch eher als ein orthodoxes Credo behandelt, etwa in Form von (mehr oder weniger begründeten) Glaubenssätzen; etwa: Musikunterricht müsse „vom Kinde aus“-gehen; Unterricht müsse eine aufbauende Musiklehre anstreben; das zugrunde gelegte Modell müsse das „Musikmachen“ sein (das ja schon sprachlich verdächtig ist); Musikunterricht müsse nach konstruktivistischen Vorstellungen eingerichtet werden ... und was an „allein seligmachenden“ Fundamenten noch angeboten wird.
In diesen Zusammenhang der Ansätze reihe ich Versuche ein, Musikunterricht aus den Anregungen und den Angeboten der Gegenstände zu entwerfen und zu gestalten.
Was aber ist es, das eine Musik – eine musikalische Erscheinung, ein musikalisches Ereignis, ein gestaltetes „Werk“ (Popsong, experimentelle Idee, Sinfonie) anbietet und anregt? Formal formuliert bietet Musik ganz verschiedene Reaktionen an: Überraschungen, Begeisterung, Enttäuschungen, Erinnerungen, Probleme, Störungen, Freude, Trauer, Erinnerungen, Langeweile oder Spannungen, Struktureinsichten ... das heißt: lauter Reaktionen, die in Fragen oder Erprobungen münden (können). 
Um es konkreter zu formulieren, nenne ich Beispiele für solche Fragen und Handlungsanregungen:

  • Wie ist die Musik hergestellt? (Was muss man dafür ausprobieren, wissen oder können?).
  • Wie kann man eine Musik hören, wie das angemessene Hören entwickeln, worauf achten? 
  • Welches Zeit-Bild zeichnet oder malt die Musik?
  • Was ist es, das mich an ihr stört, mich langweilt, überrascht usw.?
  • Was fügt oder mutet die Musik meiner (Musik)-Erfahrung zu?
  • Wie kann ich die Musik in meine Erfahrung und mein Interesse integrieren und einfügen: in meinen bisherigen Musikbesitz, in mein Denken und Erleben, in meine Interessen?


Solche und weitere Fragen zu finden, zu stellen ist der Beginn eines Unterrichts von der Musik aus. Er kann weiter gehen in Versuchen, Antworten zu finden aus dem Fundus, der schon gespeichert ist und der aufgetaut werden kann. Auf diesem Weg, häufig ohne Lehrer gegangen, aber in Kontakt mit den Wegen anderer, kann einerseits eine Beziehung zu der Musik aufgebaut und ausgebaut werden (durch häufigeres Hören, durch Musizierversuche, durch Basteln zur Musik). Andererseits kann ein echter (also nicht nur künstlich aufbereiteter und fachlich determinierter) Aufbau entstehen, ein persönlicher, der in Kommunikation mit den anderen befragt, bereichert und immer umfangreicher werden kann.
Musik bietet jedem etwas anderes, etwas Eigenes an. Jeder baut sich sein Musikleben und seine „Musiktheorie“ selbst auf. Freilich bietet Musik aber auch Vergleichbares an, insofern ihre strukturellen Erscheinungen als Fakten erklärt und benannt werden, allerdings verschieden erlebbar und deutbar: Schluss, Lautstärke, Tonhöhenstruktur … Deshalb kann es einen festgelegten und verordneten aufbauenden Musikunterricht, so hilfreich die Formalien für die Verständigung auch sein mögen, nicht geben. Einen Aufbau an eigener Erfahrung, an Verstehen und Erleben, an Wissenschaft (d. h. an gedeutetem Wissen) und an Bedeutung kann nur jeder für sich leisten und tut es schon unwillentlich. 
Dabei kann ein Unterricht helfen, der von den Angeboten und Anregungen konkreter Musikstücke aus auf den Weg gebracht wird. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass auch  die Lehrerinnen und Lehrer den Weg von der Musik aus zu gehen imstande sind und ihn zu gehen üben.

 

Chritoph Richter
 

DMP 35: Unterricht, der sich aus der Beschäftigung mit Musik ergibt

Artikelnummer: DMP-Heft-35
13,40 €Preis
inkl. MwSt. |
  • Das Wort zum dritten Quartal

    • Thomas Ott
      Unterricht in Musik – eine Fußnote der Bildungsgeschichte?

    Unterricht, der sich aus der Beschäftigung mit Musik ergibt

    • Christoph Richter
      Musikunterricht, angeregt und ausgelöst von der Musik
      erörtert und erprobt am zweiten Satz – Adagio – aus dem Klarinettenquintett op. 115 von Johannes Brahms
    • Rebekka Hüttmann
      Dramaturgie – Bewegung – Sprechweisen
      Musikalische Gestaltungsprinzipien erörtert am ersten Präludium für Violoncello solo von Sofia Gubaidulina
    • Bert Gerhardt
      Popkultur ist Medienkultur
    • Ernst Klaus Schneider
      Benjamin Britten „The Young Person`s Guide to the Orchestra” op. 34
      als Hutparade
    • Johannes M. Walter
      Arnold Schönbergs Klavierstück op. 19 Nr. 6
      Ein Unterrichtsversuch
    • Thade Buchborn & Lars Oberhaus
      Lichtma(h)len
      Musik beleuchtet

    Freie Beiträge

    • Ute Jung-Kaiser
      Das Recht auf musikalische Bildung
    • Fabian Bernstein
      Ein Modell historisch-aktualisierenden Unterrichts im Vergleich zu alternativen Ansätzen
      E
      rörtert am Beispiel notationskundlicher Fragestellungen
    • Hans Jünger
      Vom Kopf auf die Füße!
      Musikalische Bildung im Schulalter – Überlegungen zu einem institutionsübergreifenden Gesamtkonzept
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