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Liebe Leserinnen und Leser,

 

wer mehrmals im Jahr versucht, in einer wissenschaftlichen Zeitschrift einen Kranz mit Beiträgen zu binden, die wissenschaftlichen Erwartungen entsprechen, der gewinnt – jedenfalls einigermaßen – Übersicht über die Forschungsinteressen und über die Themen der Fachkolleginnen und Fachkollegen. Das gilt für solche Ausgaben, zu deren vorher festgelegten Themen Autorinnen und Autoren gewonnen werden müssen, wie ebenso für solche Hefte unserer Zeitschrift, die ein buntes Gebinde aus verschiedenen Arten und Farben zusammenstellen. Das Letztere ist im vorliegenden Heft der Fall. 
Zweierlei fällt dem Schriftleiter dabei auf, an dessen Blicken nunmehr über vierzig Jahre lang unterschiedlich lebendige und geartete Phasen der Musikpädagogik vorübergezogen sind.
Das eine ist: Es gibt in der Musikpädagogik wieder Menschen und Gruppen, die an Forschung, an grundsätzlichen Fragen des Faches interessiert sind und die, wie die Literaturverzeichnisse ihrer Beiträge bezeugen, zur Kenntnis nehmen, was andernorts gedacht, konzipiert und reflektiert wird. Der Blick geht  dabei besonders häufig nach Nordamerika, wo – nebenbei bemerkt – die Kluft zwischen musikpädagogischer, psychologischer, neurophysiologischer und soziologischer Forschung auf der einen und dem Alltag des Musikunterrichts auf der anderen Seite seltsamerweise besonders breit ist. 
Nach Jahren der Reflexions-Enthaltsamkeit stimmen die Zunahme an wissenschaftlich ausgerichteten Arbeiten und die Vielfalt der Fragestellungen hoffnungsvoll.
Die andere Beobachtung zeigt, dass die Forschungsansätze und Reflexionsbereitschaft in vielen Fällen in erfreulicher Nähe zu dem steht, wofür die musikpädagogische Wissenschaft da ist: in der Nähe zur Lehre im Musikunterricht und in der Musiklehrerausbildung.
Häufig genug war der Kahn unseres Faches mit Lasten beladen, von denen die Musiklehrerinnen und Musiklehrer nicht wussten oder davon nicht überzeugt waren, ob sie die schweren Kisten und Säcke überhaupt aufschnüren sollten. Allzu sehr enthielten sie zwar interessante Waren. Aber die richtige Versorgung mit Grundnahrungsmitteln für die nötigen Kalorien zur Umsetzung und Anwendung enthielten sie seltener.
Gerade in den Beiträgen im hier vorgelegten Heft kann man beides finden: ein wieder gewonnenes Interesse an musikpädagogischer Forschung und Reflexion – und eine neue Nähe zu den Aufgaben des Musikunterrichts, in welchem Rahmen und mit welchen Zielen auch immer er angeboten wird. So ist zu hoffen, dass die Hefte unserer Zeitschrift in die Hände vieler Musiklehrer fallen. Wir werden uns jedenfalls Mühe geben, ihre Hände zu füllen. Und wenn noch eine weitere optimistische Anmerkung ein wenig für sich hat: Mir scheint, dass auch wirklich mehr und häufiger die Hände ausgestreckt werden. 
Wenn ich allerdings das überquellend reichhaltige Angebot im Programm des demnächst stattfindenden musikpädagogischen Kongresses (Bundesschulmusikwoche) durchsehe, dann finde ich verwunderlich und betrüblich, dass es kaum Vorträge, Diskussionen und Auseinandersetzungen zu grundsätzlichen Fragen enthält. Das erstaunt mich umso mehr, als es zur Zeit wahrlich viele Anlässe gibt, grundsätzlich zu werden – gegenüber der schon nahezu karikaturistischen Verschulung der Studiengänge; gegenüber den ausbeuterischen, dafür aber ausbildungsmageren Änderungen in der zweiten Phase, gegenüber dem Zurückrudern der gymnasialen Oberstufe, gegenüber den albernen und kaum überzeugend zu begründenden länder- und bundesweiten Kontrollsystemen von Leistungen und Kompetenzen in zentralistischen Bildungsdiktaten, welche die Bezeichnung Bildung nicht verdienen – vor allem aber gegenüber der Abkehr von einer menschlichen, die Individuen achtenden Pädagogik der Reformzeit im letzten Jahrhundert und den Mahnungen von v. Hentig, Rumpf, Flitner und vielen anderen. Gegenüber der bürokratisch, wirtschaftsergebenen und von Leistungseuphorien besessenen Bildungspolitik macht ein solcher Kongress der Eindruck eines Spiels im Abseits, freilich eines schönen und erfreulichen Spiels.

 

Christoph Richter

DMP 39: Neue Anregungen für die Musikdidaktik

Artikelnummer: DMP-Heft-39
13,40 €Preis
inkl. MwSt. |
  • Das Wort zum dritten Quartal

    • Christoph Richter
      Marketing oder Musikvermittlung

    Neue Anregungen für die Musikdidaktik

    • Christine Stöger unter Mitarbeit von Eva-Maria Emmler und Julia Franzreb
      Wie kreativ ist Musikhören?
      Eine Spurensuche aus musikpädagogischer Perspektive
    • Ursula Brandstätter
      Unterricht neu denken
      Grundlegende Aspekte und Fragen zur Idee des selbstbestimmten Lernens
    • Gunther Diehl
      Komponieren als Vergegenwärtigen
      Nachdenken über ein ästhetisches Phänomen aus didaktischer Perspektive
    • Christian Rolle & Christopher Wallbaum
      Forschendes Lernen mit fremden Ohren
      Wie Studierende Erfahrungen mit erfahrungsorientierter Musikdidaktik machen
    • Sigrid Gaiser
      Klassisch ist …
      Folgerungen und Konsequenzen aus einer Studie zu „Einstellungen zum Begriff Klassische Musik“ 

    Serie: Musikpädagogik in den USA

    • David J. Elliott
      Praxial Music Education: Basic Themes, Teaching Strategies and Updates
      New York University
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