Editorial
Liebe Leserinnen und Leser,
diesmal als Gespräch: Ein etwas anderes Editorial.
Lieber Herr Cvetko,
für meine eigenen Interessen gab und gibt es vier Gründe und Anlässe, mich mit dem Vergangenen zu beschäftigen: Ich möchte wissen, wie es früher war und woher ich komme, z. B. auch in Bezug auf die Musik. Ich finde, die Geschichte erzählt spannende Geschichten. Mich interessiert, was an meinem jetzigen Leben in früheren Zeiten begann und von ihnen angeregt wurde. Ich möchte wissen, wie Menschen früher gelebt haben und was ihnen wichtig war. So betrachtet, lebe ich immer auch mit, in und aus der Geschichte.
Nun denke ich über den Wert und Sinn von Geschichte (von Geschichtlichem) – im hier gegebenen Zusammenhang – nicht (nur) als Privatier nach. Vielmehr möchte ich meine Überlegungen a) auf die Musik und den Umgang mit ihr beziehen, und b) darauf, welche Interessen Schülerinnen und Schüler an vergangenen Zeiten und ihrem Musikleben haben könnten. Auch muss ich mir überlegen, warum für den Musikunterricht (jeder Art) ein Interesse an Geschichte hilfreich bis notwendig ist.Lieber Herr Richter,
mir geht es ganz ähnlich. Ich möchte auf die Gegenstände, die sich aus der alten Vergangenheit in die Gegenwart gerettet haben, nicht verzichten. Das älteste Buch, das ich derzeit besitze, ist die sechste Auflage von August Ludwig Hoppenstedts Lieder für Volksschulen aus dem Jahre 1846. Ich liebe das Blättern dieses alten Papiers, das Lesen der Fraktur und den Geruch, den die beiden Buchdeckel noch immer zusammenhalten. Ich liebe aber auch die Biernägel eines alten im Regal stehenden Kommersbuches: Gaudeamus igitur juvenes dum sumus! Und damit komme ich zu einer mir wichtigen Frage, die auch Sie ansprechen: Solange wir jung sind – wäre es nicht besser, das Jetzt, Hier und Heute zu leben, nach dem gegenwärtigen Leben zu greifen, als romantisch in der Vergangenheit zu schwelgen? Welchen Wert und Sinn hat es für uns, welchen gar für die Schülerinnen und Schüler? Der Musikpädagoge Eberhard Preußner äußerte im Zusammenhang mit seinen Studien zur Musikerziehung in Platons »Staat« und Goethes »Wilhelm Meister« kritisch, die gegenwärtige Flucht in die Geschichte sei „ein sehr probates Mittel, sich den Aufgaben der Gegenwart zu entziehen“ (Preußner 1959). Vivamus igitur, juvenes dum sumus!
Lieber Herr Cvetko,
vielen Dank für Ihre Antwort, die ich als Verstärkung meiner ersten Gedanken verstehe. Vielleicht ist es eine gute Möglichkeit, junge Menschen erst einmal mit Beispielen aus früheren Zeiten bekannt zu machen. Mir fallen drei Möglichkeiten ein: 1) Wenn man Tänze aus der Renaissance oder der Barockzeit mit Tänzen konfrontiert, die junge Menschen (Schüler) heute tanzen oder spielen, könnte – über die verschiedene Machart hinaus oder von ihr ausgehend – deutlich werden, welche Bedeutung die Tänze und das Tanzen vor 300 Jahren hatten, bei welchen Gelegenheiten wie und was getanzt wurde, wie alte Tänze das Zusammenleben von Mädchen und Jungen schilderten oder deuteten – im Unterschied zu heute. 2) Man könnte in einer Art von Bildbetrachtungen von Notenumschlagseiten herauszufinden suchen, welche Bedeutung die auf diese Weise graphisch oder bildhaft geschmückte Musik für die Menschen hatte. 3) Man könnte Musikbeispiele vorführen und besprechen, in denen „Altes“ (alte Musik) vorkommt: Weberns Orchester-Instrumentation des Bachschen Ricercares, Bartóks Grundlegung vieler Kompositionen aus Bauernliedern, Monteverdis und Christoph Schönherrs Bearbeitungen des gregorianischen „Magnificat“ – etwa mit der Frage, warum in solchen Werken Altes hervorgeholt wird und wie es für uns heute wirkt.
Es gibt sicher mehr und bessere Beispiele; aber vielleicht liegt in solchen Konfrontationen die Chance zu erfahren, wie Menschen früher gelebt, gedacht, gefühlt haben.Lieber Herr Richter,
mir kommt es gelegentlich vor wie der Streit um des Kaisers Bart. Ist es nicht müßig, über den Wert und Gebrauch von Geschichte zu streiten, da doch alles um uns herum – mit Ausnahme der Gegenwart und Zukunft – Geschichte ist? Jeden Satz, den ich hier schreibe, ist, wenn er fertig ist, Geschichte, eine „geschehene Sache“. Insofern kann sich niemand, auch Schülerinnen und Schüler nicht, der Geschichte entziehen. Und fast alle Lerngegenstände des Musikunterrichts sind per se Geschichte, es sei denn, man komponiert oder improvisiert mit den Lernenden Musik; das aber auch nur solange, bis es am Stundenende klingelt – dann ist auch diese Musik Geschichte. Entscheidender ist doch aber für uns Pädagogen die Frage, wie Geschichte, die uns täglich umgibt – etwa Musik aus der Geschichte, die nicht nur auf ein gegenwärtiges Klangereignis reduziert wird –, bildungsrelevant werden könnte. Reicht es, einfach nur Geschichte zu erfahren? Eine Möglichkeit haben Sie angesprochen: Sie machen mit einer Geschichte bekannt, die uns nicht täglich umgibt, die so weit zurückliegt, dass sie zunächst fremd wirkt – die Geschichte als das Fremde. In diesem Falle ist die Geschichte dann doch nicht das geeignete Fluchtmittel, sich der Gegenwart zu entziehen. Sie sagen, man könne Jugendliche mit früheren Zeiten bekannt machen, um dann im Unterschied zu heute das Alte mit dem Neuen zu spiegeln. Das überzeugt und erinnert mich an den Pädagogen Ortfried Schäffter, der verschiedene Modi des Fremderlebens (1991) aufzeigt. Ein Modus ist „das Fremde als Gegenbild“; das Fremde fungiert als Folie des Eigenen. Und weil die Auseinandersetzung mit dem Anderen in zeitlicher Ferne, dem Fremden, immer zurückwirkt auf die eigene gegenwärtige Identitätsentwicklung, wird der Mensch am Du zum Ich, so beschreibt es der Philosoph Martin Buber in seinem Buch ICH UND DU (1923). Es wäre ein Gewinn, weitere Modi des Fremderlebens anhand von ‚Geschichte als das Fremde’ vorzustellen und ihre Bildungsrelevanz herauszuarbeiten. Dazu gehört etwa der Modus, bei dem das alte Fremde als übergreifende Einheit zum neuen Eigenen erscheint und sich somit das Neue besonders aus dem Alten verstehen lässt. Ich glaube, es wäre gut, noch mit praktischen Umsetzungen anhand von Unterrichtsbeispielen zu warten, um der Frage nach Bildungszielen im Hinblick auf Geschichte im Musikunterricht als Prämisse den nötigen Raum zu geben … Ich bin gespannt auf Ihre Antwort!
DMP 56: Geschichte im Musikunterricht
Lieber Herr Cvetko,
dass ich etwas vorschnell mit Beispielen aufwarte, zumal mit solchen, die Unterricht betreffen, ist eine alte Angewohnheit und stillt mein Bedürfnis nach anschaulichen Vorstellungen. Da ist es gut, wenn Sie ein wenig auf die Bremse treten, indem Sie einerseits auf die Kurzlebigkeit allen Geschehens hinweisen, und andererseits den Topos des Fremden ins Spiel bringen, der „als Folie des Eigenen“ fungieren kann – freilich nur, wenn man lernt und bereit ist, gleichzeitig auch das Eigene ins Spiel bringt. Wenn wir mit scheinbar Vergangenem so umgehen, dass es uns so anblickt, wie es ist und gedeutet werden kann; wenn wir es also beim Umgang mit Geschichte mit so etwas wie einem ‚Erfahrungspaar’ zu tun haben, dann könnte dabei Bildung entstehen, zumindest als Prozess in statu nascendi, nicht aber als Wissenskatalog.
Die Figur der Zusammengehörigkeit des Fremden und des Eigenen möchte ich durch einen weiteren Aspekt ergänzen, nämlich um die Art, in der Rüdiger Safranski die seltsame und langsam wachsende Freundschaft zwischen Goethe und Schiller beschreibt. Freundschaft, so schreibt Safranski, zeigt sich weniger in Übereinstimmung und Gleichgesinntheit als in dem, was den anderen (sein Denken, Fühlen und Handeln) ergänzt, was die Beschränktheit und Einseitigkeit schärfer herausstellt, was einerseits Alternativen und andererseits Unvollkommenheit aufzeigt – anders formuliert, was zum Überdenken des bisherigen Denkens, Handelns, Deutens herausfordert. Diese Funktion könnte die Beschäftigung mit Geschichte vielleicht auch haben. Dann treten Fragen auf, die nach früheren Hörern, Musikern, nach Funktionen und Bedingungen der Musik und des Musiklebens fragen.
Die Frage nach dem Eigenen im Fremden und die Frage nach der Andersartigkeit könnten vielleicht die Quelle für die Bildungschancen der Beschäftigung mit Geschichte sein.Lieber Herr Richter,
Ihr Vergleich mit der Freundschaft Goethes und Schillers gefällt mir gut! Über unseren Gedanken des Fremden als Folie des Eigenen hinaus sehe ich noch zwei wichtige Bildungsrelevanzen: Wenn es so ist, dass wir uns unsere Welt konstruieren müssen, dann liegt eine Aufgabe von Schule darin, diese Konstruktionsleistung für und mit den Schülerinnen und Schülern auf den Weg zu bringen. Und im Falle der Geschichte wird die vergangene Welt rekonstruiert – das zu können, ist eine echte Kompetenz. Dann gibt es auch per se keinen Wissenskatalog, den es zu vermitteln gälte. Die Geschichtsdidaktik hat in den letzten Jahren wichtige Impulse gesetzt. Nicht nur im Hinblick auf Kompetenzen, sondern auch auf die Frage, wie man Geschichte erzählt. Zu häufig nämlich bedien(t)en sich die Pädagogen eintöniger „und dann“-Erzählungen, die sich auf die Aneinanderreihung von Ereignissen beschränkt. Doch Geschichte Sinn zu verleihen, bedeutet einen Zusammenhang aufzuzeigen – auch das ist Teil der Rekonstruktionsleistung. Gerade der von Ihnen genannte Rüdiger Safranski zeigt das in seinem Buch über die Romantik bespielhaft: Er erzählt die Geschichte der Romantik als „eine deutsche Affäre“. Die Geschichtsdidaktiker nennen das »Historisches Erzählen«. Zu überlegen, wie das Rekonstruieren und historische Erzählen in Verbindung mit dem sinnlichen Medium Musik in der Musikdidaktik funktionieren könnte, ist eine lohnende Aufgabe.Geschichte im Musikunterricht
- Alexander J. Cvetko
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