Liebe Leser*innen,
Musikunterricht an allgemeinbildenden Schulen ist der einzige Ort, an dem in musikalischer Hinsicht tatsächlich alle Kinder und Jugendlichen erreicht werden können. Gerade wegen dieser großen Reichweite sieht sich der Musikunterricht seit jeher hohen gesellschaftlichen Erwartungen und zum Teil auch idealisierten Leitvorstellungen gegenüber, die weit über die konkreten Vorstellungen und Wünsche von Schüler*innen und Eltern hinausgehen.
Rahmenlehrpläne formulieren in dieser Hinsicht gesellschaftliche Ansprüche sowohl auf der Ebene von allgemeinen Bildungszielen als auch in Form konkreter Fachziele für den Unterricht und bestimmen damit den Referenzrahmen, in dem sich die konkreten Gestaltungsmöglichkeiten von Musiklehrenden bewegen. Zusätzlich tragen Kulturinstitutionen, die sich um ihr zukünftiges Publikum sorgen, Kooperationsangebote an Schulen und deren Musikfachbereiche heran und bieten sich damit als Partner für eine Öffnung des Musikunterrichts im Bereich der kulturellen Bildung an. Ebenso suchen Musikschulen mit dem Angebot von Instrumentalunterricht aber auch mit Bildungsoffensiven wie dem JeKi-Progamm ihren Platz im Rahmen der Ganztagsschule. Ausgehend von der Vorstellung von Musik als einer universalen Sprache wird vonseiten der Bildungs- und Sozialpolitik zudem der gesellschaftspolitische Auftrag an das Fach herangetragen, mithilfe des Musizierens Integration und Inklusion voranzubringen.
In diesem Netz vielgestaltiger Interessen, Ansprüche und Wirklichkeiten stellt sich die zentrale Frage, wie ein zeitgemäßer Musikunterricht gestaltet werden und im Hinblick auf Lernprozesse gelingen kann, der diese gesellschaftlichen Ansprüche und Wandlungen berücksichtigt und gleichzeitig die Lernenden mit ihren Motivationen und Interessenlagen zentral im Blick behält. Erschwert wird diese Aufgabe zusätzlich durch schwindende Stundenkontingente für den Musikunterricht und teilweise auch durch das Aufgehen des Fachunterrichts in neuen Fächerverbünden oder Aufgabenfeldern, die unter dem Etikett der ästhetischen Bildung letztlich auf eine Wahloption zwischen Musik, Bildender Kunst und Theater hinauslaufen und damit den verbindlichen Fachunterricht für alle unterlaufen.
Wie wichtig es ist, dass wir überzeugende Antworten auf die Frage nach dem Sinn und Zweck von Musikunterricht geben und seine Unersetzbarkeit im Fächerkanon der Schule klar kommunizieren können, ist in der anhaltenden Corona-Pandemie noch einmal sehr deutlich geworden. Denn vielerorts haben das digitale Lernen und die unterrichtliche Notversorgung der Lernenden vor allem in den vermeintlichen Hauptfächern den Musikunterricht in eine prekäre Lage gebracht.
Am Ende entscheiden jedoch nicht der gesellschaftliche Rahmen und die bildungspolitischen Vorgaben darüber, ob es gelingt, Kinder und Jugendliche für Musik zu begeistern und ihnen vielfältige musikbezogene Lern- und Erfahrungsräume zu eröffnen, sondern diese Frage stellt sich mit Blick auf die jeweils involvierten Lehrenden und Lernenden in jeder Musikstunde immer wieder neu.
Innerhalb des hier skizzierten Spannungsfeldes reflektieren die Autor*innen der folgenden Beiträge unterschiedliche Aspekte und Fragestellungen, die sich in Bezug auf die Gestaltung von Musikunterricht aus der Lehrendenperspektive stellen und die bislang wenig im diesbezüglichen Diskurs thematisiert wurden. Damit will dieses Themenheft konkrete Anstöße zum Weiterdenken geben.
Peter Klose stellt das Potential praxistheoretischer Ansätze für ein Verständnis von Musik als sozialer Praxis dar. Er untersucht die vokalmusikalischen Praxen Schulchor, Chorklasse und Singen im regulären Musikunterricht, um Eigenheiten und Ansprüche herauszuarbeiten, die diesen Praxen in didaktisch-methodischer Hinsicht jeweils innewohnen.
Aus einer gleichermaßen praxis- und forschungsorientierten Perspektive nähert sich Sabine Föster den Herausforderungen, die sich im Zusammenhang mit der Leistungsbewertung von kreativen Prozessen und Produkten im Musikunterricht ergeben, und entwickelt in dieser Hinsicht Ideen für einen stärkeren Dialog zwischen musikpädagogischer Forschung und schulischer Unterrichtspraxis.
Ausgehend davon, dass sich Musikunterricht auch in einer demokratischen Gesellschaft in einem Spannungsfeld von gesellschaftspolitisch begründeten Bildungs- und Erziehungszielen einerseits und fachlichem Anspruch andererseits bewegt, widmet sich Honza Gimaletdinow der grundsätzlichen Frage, welchen Beitrag der Musikunterricht zu politischen und gesellschaftlichen Bildungsprozessen leisten kann und welche Rahmenbedingungen dabei berücksichtigt werden müssen.
Julia Jung lenkt den Blick auf die Bedeutsamkeit von Stille als ästhetisches Phänomen und als Lern- und Erfahrungsgegenstand im Musikunterricht. In ihrem Beitrag werden Wahrnehmungsübungen von Maria Montessori und Raymond Murray Schafer exemplarisch vorgestellt, die das Erleben von und die bewusste Auseinandersetzung mit Stille auf mehreren Ebenen ermöglichen.
Vor dem Hintergrund einer sich im musikpädagogischen Diskurs zeigenden Leerstelle arbeitet Marc Mönig zunächst konzeptionell verschiedene Möglichkeiten heraus, wie der pädagogische Anspruch der Problemorientierung im Musikunterricht didaktisch umgesetzt werden kann. Was Problemorientierung im Musikunterricht konkret bedeutet, illustriert der Beitrag zudem mithilfe zahlreicher Praxisbeispiele.
In seinem „Plädoyer für einen induktiven Musikunterricht“ zeigt Norbert Heukäufer an verschiedenen Beispielen aus der eigenen Unterrichtspraxis auf, wie Musikunterricht induktiv gestaltet und entdeckendes und exploratives Lernen von Lehrkräften angestoßen werden kann. Im Gegensatz zu deduktiven Ansätzen, in denen Ergebnisse vorgegeben und nur nachvollzogen werden müssen, eröffnet der induktive Musikunterricht den Lernenden ein weitgehend selbstständiges Erschließen von Musik.
In einem Bericht über das Unterrichten in Zeiten von Covid-19 dokumentieren Maximilian Piotraschke und Philipp Wöhler die Erfahrungen einer Gruppe von Musiklehrer*innen aus dem Großraum Rostock. In der Form eines chronologischen Rückblicks werden einerseits Lernprozesse und positive Erfahrungen sowie andererseits die besonderen Herausforderungen aufgezeigt, vor denen der Musikunterricht derzeit steht.
Mit einer sowohl praxeologischen und intersektionalen Forschungsperspektive lenkt Johann Honnens in seinem freien Beitrag den Blick auf ein sich in der musikpädagogischen Geschlechterforschung zeigendes Desiderat. In Rahmen einer qualitativ-empirischen Analyse geht er der Frage nach, wie hegemoniale Männlichkeit unter männlichen Jugendlichen im Sprechen über ihren Musikgeschmack hergestellt wird.
Im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie haben uns außerdem inzwischen viele Textbeiträge erreicht, die unterschiedliche Aspekte im Umgang mit den Auswirkungen der Pandemie auf den Musikunterricht und auf das musikpädagogische Studium thematisieren. Wir haben uns daher entschieden, dieser Thematik eine eigene Heftausgabe zu widmen (Ausgabe 92, 2021), und freuen uns über die Zusendung weiterer Beiträge oder Vorschläge für Artikel.
Rebekka Hüttmann, Oliver Krämer, Annette Ziegenmeyer
DMP 90: Gestaltung des Musikunterrichts
Gestaltung des Musikunterrichts
- Peter Klose
Musikunterricht, vom Menschen und vom Tun her gedacht
Musikdidaktische Implikationen des Praxisbegriffs am Beispiel von Schulchor-AG, Chorklasse und gemeinsamem Singen im Musikunterricht - Sabine Föster
Kreatives Handeln kreativ bewerten?
Anregungen aus der Forschung und Praxis des Musikunterrichts - Honza Gimaletdinow
Demokratieerziehung in der Schule aus der Perspektive des Musikunterrichts - Julia Jung
„Atmosphären der Stille“
Vom Innehalten und Zuhören im (Musik-)Unterricht - Marc Mönig
Wider das Erstarren des Kaninchens vor der Schlange
Grundzüge einer pragmatischen Vorstellung von Problemorientierung im Musikunterricht der Mittel- und Oberstufe - Norbert Heukäufer
Entdecken und Erforschen als Gestaltungsprinzip im Musikunterricht
Ein Plädoyer für einen induktiven Musikunterricht - Tilman Fröhlich & Susann Lunow & Christian Paplowski & Sylke Rodewald & Karolin Trusch
Ein Jahr Musikunterricht in Zeiten von COVID-19: ein Erfahrungsbericht
Gesammelt und zusammengestellt von Maximilian Piotraschke und Philipp Wöller
Freie Beiträge
- Johann Honnens
Hegemoniale Männlichkeiten in musikbezogenen Aushandlungen von Jugendlichen
Eine praxeologische und intersektionale Analyse
- Peter Klose