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Liebe Leser:innen,

 

in der gesellschaftlichen und politischen Debatte erfahren diskriminierungskritische Themen seit einiger Zeit verstärk­te Beachtung. Medial sichtbar werden sie unter anderem durch Bewegungen wie #MeToo oder #BlackLivesMatters, die vor Augen führen, wie tief strukturelle Diskriminierung in der Gesellschaft verankert ist. Der Begriff ,Intersektionalität‘ lenkt die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass in vielen Fällen mehrere Kategorien der Ungleichheit, Diskriminierung und Unterdrückung miteinander verschränkt sind – dazu gehören beispielsweise die Aspekte class, gender, race/ethnicity und body. Bei der intersektionalen Perspektive geht es darum, die Kategorien weder einzeln noch additiv zu betrachten, sondern in ihrer Interdependenz: Die Dimensionen der Ungleichheit und Diskriminierung wirken nicht isoliert voneinander, sondern sie interagieren und können sich gegenseitig verstärken.
Auch im schulischen Musikunterricht bestehen komplexe intersektionale Ungleichheitsverhältnisse, die in den letzten Jahren verstärkt in den Blick von internationalen musikpädagogischen Diskursen gerückt sind. Indes befindet sich die deutschsprachige musikpädagogische Forschung zum Thema ,Intersektionalität‘ noch am Anfang. Während es zur Kategorie gender inzwischen zumindest einige Forschungsbeiträge gibt, ist die Betrachtung weiterer Ungleichheitskategorien und insbesondere ihrer Intersektionen noch weitgehend ein Desiderat. Dementsprechend will das vorliegende Heft dazu beitragen, den Fachdiskurs anzuregen und voranzubringen.
Mit ihrem einführenden Beitrag eröffnen Joana Grow, Eva-Maria Tralle und Sophia Waldvogel den thematischen Teil des Heftes, indem sie einen Überblick über den Stand der musikpädagogischen Forschung zum Thema ,Intersektionalität‘ bieten. Darauf aufbauend entwickeln sie zukunftsgerichtet Fragen und Perspektiven für die weitere musikpädagogische Forschung und zeigen Potenziale auf, die sich aus dem Intersektionalitätsdiskurs für das Fach ergeben.
Vincent C. Bates beschreibt eindrücklich, wie soziale Hiera­rchien und Machtstrukturen auch im Musikunterricht konstruiert und fortgeschrieben werden. Er unterscheidet und konkretisiert zwölf Formen der Unterdrückung, die im Musikunterricht wirksam sein können, und formuliert daran anschließend sechs Merkmale von Intersektionalität. Ausgangs- und Zielpunkt seiner Überlegungen ist die Frage, welchen Beitrag der Musikunterricht leisten kann, um ein Leben in „Freiheit und Gerechtigkeit für alle“ zu ermöglichen.
Im folgenden Gemeinschaftsbeitrag von fünf Au­tor:innen stellt zunächst Mario Dunkel ein interdisziplinäres Forschungscluster der Universität Oldenburg vor: Vertreter:innen aus drei Fächern widmen sich dort der gemeinsamen Frage, wie sich „intersektionale Sensibilität“ unter anderem im Kontext von Schule und Lehrkräftebildung entwickeln lässt. Sophia Friedmann, Rena Janßen, Shanti Suki Osman und Sophia Waldvogel berichten jeweils von ihren Dissertationsprojekten, die zeigen, wie breit und vielfältig die derzeitige Forschung zum Thema ,Intersektionalität‘ ist.
Die beiden folgenden Artikel stellen verschiedene Anwendungsbezüge her: Timo J. Dauth untersucht den Kinofilm Sister Act 2 aus intersektionaler Perspektive. Dabei arbeitet er heraus, wie der Film an einigen Stellen Diskriminierungen sichtbar macht und – zumindest ansatzweise – Empowerment als Botschaft transportiert, während er an anderen Stellen Diskriminierungen, zumal gegenüber Frauen, reproduziert und fortschreibt. Abschließend zeigt Timo Dauth Möglichkeiten auf, die intersektionale Auseinandersetzung mit dem Film in den Musikunterricht zu integrieren.
Shanti Suki Osman widmet sich der Frage, wie in der Lehrkräftebildung ein Bewusstsein und Handlungsstrategien für den Umgang mit Intersektionalität erarbeitet werden können. Sie berichtet von einem Seminar an der Universität der Künste Berlin, in dem es zunächst darum ging, die Wirksamkeit von Mehrfachdiskriminierungen im Kontext von Musikunterricht zu erkennen. Daran anschließend entwickelten die Studierenden Unterrichtsskizzen für einen diskriminierungskritischen Musikunterricht, von denen eine exemplarisch vorgestellt und kommentiert wird.
Den Abschluss des Heftschwerpunkts bilden zwei Texte, die die Kategorie gender im Hinblick auf das Thema Intersektionalität fokussieren. Joana Grow und Anna Theresa Roth geben einen Überblick über die internationale, englischsprachige Forschungsliteratur zum Thema gender seit dem Jahr 2000 und formulieren daran anschließend Impulse und Potenziale für eine intersektionale genderforschung. Über einen QR-Code zugänglich ist eine umfangreiche Lis­te mit internationaler und deutschsprachiger Literatur zu gender und Intersektionalität.
Ilka Siedenburg fragt nach den Möglichkeiten, den musikpädagogischen Diskurs zum Thema gender durch eine intersektionale Perspektive zu erweitern. Beispielhaft erörtert sie dies anhand der Kategorien race/ethnicity und class in ihrer Überschneidung mit gender. Ähnlich wie in einem genderreflektierten Unterricht stellt sich auch in Bezug auf Intersektionalität die Frage nach dem Umgang mit Differenzlinien: Sollten Differenzen thematisiert werden – oder trägt schon das Thematisieren dazu bei, dass die Differenzen und damit einhergehend die Machtstrukturen fortgeschrieben werden? Hier zeigt die Autorin mögliche Perspektiven für den Musikunterricht auf.
An das Heftthema anknüpfend berichtet Sophia Waldvogel im Magazinteil schließlich von der Tagung genderforschung in den Fachdidaktiken ästhetischer Fächer an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover im März 2022.
Wir hoffen, dass das vorliegende Heft dazu beiträgt, den Intersektionalitätsdiskurs in der deutschsprachigen Musikpädagogik sichtbar zu machen und voranzubringen.

 

Rebekka Hüttmann, Oliver Krämer, Annette Ziegenmeyer

DMP 94: Intersektionalität

Artikelnummer: DMP-Heft-94
13,40 €Preis
inkl. MwSt. |
  • Nachruf

    • Wolfgang Martin Stroh
      Volker Schütz (1939–2022)
      Nachruf

    Intersektionalität

    • Joana Grow & Eva-Maria Tralle & Sophia Waldvogel
      Intersektionalität in der Musikpädagogik
      Ansätze und Potenziale für die musikpädagogische Forschung und Unterrichtsentwicklung
    • Vincent C. Bates
      Intersectionality for Social Justice in Music Education
    • Mario Dunkel & Sophia Friedmann & Rena Janßen & Shanti Suki Osman & Sophia Waldvogel
      Einblicke in aktuelle Forschungsprojekte an der Schnittstelle von Musikpädagogik und Intersektionalität
    • Timo J. Dauth
      „Not exactly livin’ in the land of opportunity”
      Sister Act 2: Back in the Habit als Gegenstand der Auseinandersetzung mit Intersektionalität im Musikunterricht
    • Shanti Suki Osman
      Wege zu intersektionaler diskriminierungs-kritischer Musikvermittlung
      auf der Grundlage eines reflexivenDiversitätsverständnisses in der Musiklehrkräftebildung
    • Joana Grow & Anna Theresa Roth
      Genderforschung und Intersektionalität
      Ein Überblick über empirische Studien ab 2000
    • Ilka Siedenburg
      Von der Gendersensibilität zur Intersektionalität?
      Musikunterricht als Möglichkeitsraum zur Überwindung von Polarisierungen
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