top of page

Editorial (Teil I)

 

Liebe Leser:innen,


dass wir zum Ende des Jahres 2022 ein Heft mit dem Thema Europa herausgeben, hat im Wesentlichen zwei Gründe: Zum einen ließ sich das ursprünglich vorgesehene instrumentalpädagogisch ausgerichtete Heftthema Zukunft der Musikschulen – Musikschulen der Zukunft zum geplanten Zeitpunkt nicht realisieren. Zum anderen hat uns der Krieg in der Ukraine zu einem Nachdenken über Europa, über seine Werte und seine Grenzen bewogen und darüber hinaus zu Überlegungen geführt, wie schulische Bildung künftig noch stärker als bislang zur Überwindung von Nationalismus und zu einer pro-europäischen Haltung beitragen kann.
Vor diesem politischen Hintergrund scheint es uns angebracht, Fragen nach dem europäischen Gedanken auch in unserem Fach zu stellen: Wer und was ist Europa? Eine geografische Region, ein geopolitisch-strategisches Konstrukt, eine Wertegemeinschaft, ein durch gemeinsame Geschichte, Kultur und Denkweisen zusammengewachsene Region? Wie müssen Bildungsinstitutionen von den Schulen bis zu Hochschulen und Universitäten agieren, um wieder erstarkenden Nationalismus zu überwinden und stattdessen Europa als gemeinsamen Referenzrahmen (als gedanklichen Horizont ebenso wie als konkretes Handlungsfeld) stärker in den Blick zu rücken? Und wie ist solch ein europäisches Anliegen insbesondere auch in der Musiklehrkräftebildung zu adressieren? Und am Ende die vielleicht wichtigste Frage nach der grundsätzlichen Zielsetzung: Warum überhaupt Europa unterrichten? Was ist der besondere Bildungswert einer stärkeren Auseinandersetzung mit Geschichte, Philosophie, Musik und Kunst in europäischer Dimension sowie mit den Sprachen und Lebensweisen der Menschen, die sich gemeinsam als Europäer:innen verstehen?
Antworten auf diese Fragen liegen für uns weder in der immer wieder beschworenen Wirtschaftskraft eines geeinten Binnenmarktes noch in einer anlässlich der aktuellen militärischen Bedrohung zur Schau gestellten gemeinsamen Verteidigungsbereitschaft. Europa – das ist nach Jahrhunderten innerer Konkurrenzen und Konflikte, nach der Erfahrung zweier Weltkriege und nach der Spaltung während des kalten Krieges zuletzt vor allem ein großes Friedensprojekt, in dem Grenzen zwischen Ländern und Menschen zunehmend an Bedeutung verlieren, in dem die Balance zwischen notwendiger Einheit und einem Übermaß an Vereinheitlichung trotz vielfacher Kritik sorgsam bedacht und ausgelotet zu werden scheint: Ein in Freiheit, Frieden und Solidarität geeintes Europa der Regionen, in dem die Vielfalt der Lebensformen nach wie vor ihren Platz hat – das ist die Vision, für die es zu streiten und für die es kommende Generationen zu begeistern gilt.
Mit ihren Beiträgen zu diesem Heftthema mussten sich die Autor:innen auf das Wagnis offenen Nachdenkens einlassen. Niemand von den Beteiligten hatte einen entsprechenden Artikel bereits fertig in der Schublade. Allen Beiträgen zum Thema ist deshalb ein Herantasten an den Gegenstand gemeinsam. Viele der Beiträge ringen zunächst mit Bestimmungsversuchen: Was ist Europa? Wer gehört dazu und wo sind seine Grenzen? Wie variieren verschiedene Definitionen und Zuschreibungen in Abhängigkeit von den jeweils zugrunde gelegten Perspektiven (geografisch, politisch, kulturell, wirtschaftlich)?
Das gemeinsame Bild, das sich in den wiederholten Bestimmungsversuchen abzeichnet, ist ein offen gedachtes Europa, das sich netzwerkartig und nicht zentral hierarchisch strukturiert; ein Europa, dessen Außengrenzen fließend sind, das Anknüpfungspunkte bietet, anstatt sich durch trennende Mauern abzuschotten; ein Europa, das sich der eigenen Vielgestaltigkeit als eines seiner wesentlichen Charakteristika bewusst ist und Wege findet, mit dieser Vielgestaltigkeit produktiv umzugehen.
Dabei wird keiner der hier versammelten Beiträge für sich in Anspruch nehmen, etwas fertig gedacht zu haben. Vielmehr ist es das Ziel, mit verschiedenen Anregungen den Diskurs überhaupt erst zu eröffnen und damit einzuladen, darüber nachzudenken, wie Musikunterricht und Musikpädagogik von ihrer Ausrichtung her künftig noch europäischer werden können.
Die musikhistorische und musikästhetische Grundlegung der thematischen Auseinandersetzung übernimmt der Beitrag von Johannes Menke. Bei seinem Blick zurück in die europäische Musikgeschichte identifiziert er durch die Zeiten hindurch vier konstante Denkfiguren und Leitmotive musikkulturellen Handelns (In nova fert, Discors concordia, Agon, Sapere aude), die er jeweils an vielfältigen Beispielen (Kompositionspraktiken, historischen Rück- und kulturellen Querbezügen) verschiedener Musikepochen nachweist.
...

DMP 96: Europa

Artikelnummer: DMP-Heft-96
13,40 €Preis
inkl. MwSt. |
  • Europa

    • Johannes Menke
      Musik in Europa
      Eine historische Annäherung
    • Sonja Greiner & Helmut Schaumberger
      Kollektives Singen in Europa
    • Oliver Krämer
      Die europäische Perspektive in aktuellen Liederbüchern für den Musikunterricht
      Eine Bestandsaufnahme
    • Isolde Malmberg & Franz Niermann
      Doing Europe
      Netzwerken für die Musikpädagogik
    • Michael Dartsch
      Der Policy Brief „Including Early Childhood Music Education in Higher Music Education Institutions“
    • Till Fehlhaber & Ina Großmann & Anne Mathilde Hantco & Oliver Mathes & Patricia Schneider & Josephina Strößner & Hepke Helene Weiland
      Musikpädagogik studieren in Europa
      Erfahrungsberichte – zusammengestellt von Oliver Krämer
    • Vincent-Immanuel Herr & Martin Speer
      Drei Impulse, die Europas Kultur beflügeln

    Freie Beiträge

    • Hans Christian Schmidt-Banse
      Zehn Gründe, warum mich aktueller Musikunterricht bekümmert
    • Elisabeth Treydte
      Komponistinnen* in die Schulen
      Ein Plädoyer für paritätische Schulbücher
  • ...

    Den gegenwärtigen Stand kollektiven Singens in Europa beschreiben Sonja Greiner & Helmut Schaumberger im zweiten Beitrag zum Thema. Sie geben einen Überblick über verschiedene Formen und Funktionen des gemeinsamen Singens in unterschiedlichsten Gruppen. Ihre Standortbestimmung beginnt mit der Erörterung grundsätzlicher Leitfragen und führt über die Klärung der Aufgaben zweier europäischer Chorverbände schließlich zu einer Auflistung von innovativen Beispielen guter Praxis im Bereich des kollektiven Singens.
    In dem sich anschließenden Beitrag geht Oliver Krämer der Frage nach, wie europäisch aktuelle Liederbücher für den Musikunterricht ausgerichtet sind. Eine gemeinsam mit Studierenden durchgeführte Bestandsaufnahme des Repertoires an Liedern und Songs zeigt eine große Bandbreite unterschiedlicher Stilrichtungen und Genres sowie die große Rolle, welche die englische Sprache neben deutschen Songtexten durch die Integration britischer und amerikanischer Rock- und Popmusik inzwischen spielt. Es zeigt sich aber auch, dass die europäische Perspektive des Repertoires noch entwickelt werden kann, sowohl im Hinblick auf eine stärker europäisch ausgerichtete Liedauswahl als auch im Hinblick auf die Sprachenvielfalt der Lieder und Songs.
    Ebenfalls aus europäischer Verbandsperspektive schauen Isolde Malmberg & Franz Niermann auf die zugrunde liegenden strukturellen Prinzipien, nach denen Netzwerkarbeit auf europäischer Ebene funktioniert. Das Netz ist dabei Metapher einer Organisationsstruktur, die weniger zentralistisch durchstrukturiert ist, sondern Momente der Flexibilität, der Anpassungs- und Entwicklungsfähigkeit behält und sich damit auch für die Verbandsarbeit der European Association for Music in Schools (EAS) als besonders tragfähig erwiesen hat, wo verschiedene nationale schulorganisatorische Gegebenheiten, aber auch vielfältige musikpädagogische Kulturen und institutionelle Unterschiede in den einzelnen Mitgliedsländern aufeinandertreffen.
    Der Policy Brief Including Early Childhood Music Education in Higher Music Education Institutions ist ein aktuelles Beispiel für musikpädagogische Zusammenarbeit und Willensbildung auf europäischer Ebene. Es ist der Versuch, über Ländergrenzen hinweg ein europäisches Bewusstsein für die Bedeutung frühkindlicher musikalischer Bildung zu schaffen und Standards für deren Umsetzung zu etablieren. Michael Dartsch als Koautor dieses Policy Briefs beschreibt in seiner Einleitung den vorausgegangenen Arbeitsprozess und zeigt die Schritte auf, wie aus einem europäischen Projekt heraus schließlich eine solche gemeinsame Abschlussveröffentlichung entsteht.
    Wie die europäische Perspektive gelebt und persönlich als gewinnbringend erfahren werden kann, zeigen Berichte ehemaliger Musiklehramtsstudierender, die auf ihr Erasmus-Semester im Ausland zurückblicken und dabei Gemeinsamkeiten sowie Unterschiede zur Studiensituation in Deutschland thematisieren. Neben persönlichen Begegnungen und der allgemeinen Horizonterweiterung ist vor allem auch ein studienorganisatorischer Aspekt prägend, wie aus den Texten von Till Fehlhaber, Ina Großmann, Anne Mathilde Hantco, Oliver Mathes, Patricia Schneider, Josephina Strößner & Hep­ke Helene Weiland hervorgeht: In den anderen europäischen Ländern belegen Lehramtsstudierende ihr eines Fach Musik und studieren nicht wie in Deutschland zwei oder mehrere Unterrichtsfächer parallel. Die Konzentration auf die eigene musikalische Weiterentwicklung, die dadurch möglich ist, wird von den Autor:innen in ihrer Rückschau besonders hervorgehoben.
    Das Autorenteam Herr & Speer schaut schließlich über die Grenzen der Musik hinaus nach Handlungsmöglichkeiten und Spielräumen auf dem Weg hin zu einem geeinten Europa. In ihrem Buch Europe For Future entwickeln beide Autoren „95 Thesen, die Europa retten“ (so der Untertitel) als Antwort auf eine zunehmende Europa-Indifferenz vieler Menschen und auf den politischen Druck, unter dem die europäische Idee nach dem EU-Austritt Großbritanniens und durch den wiedererstarkenden Nationalismus in immer mehr Mitgliedstaaten steht. Für ihren Beitrag in diesem Heft greifen die Autoren drei mögliche Maßnahmen heraus, die dazu dienen können, den Europagedanken zu stärken und kulturellen Austausch innerhalb Europas zu intensivieren: Sie fordern ein Unterrichtsprogramm in EU-Bürgerschaftskunde in allen Mitgliedsstaaten, einen gemeinsamen Feiertag für die europäische Idee und ein kostenloses Interrail-Ticket für alle jungen Menschen.
    Mit einer bewusst provokant formulierten Polemik fordert Hans Christian Schmidt-Banse im ersten freien Beitrag dieses Heftes zum Nachdenken über Fehlformen des Musikunterrichts heraus. Es sind verschiedene Einseitigkeiten, die dabei in den Fokus seiner Kritik geraten: der ausschließlich formalanalytische Zugang im Musikunterricht ebenso wie ein einseitig am Prinzip der Machbarkeit orientiertes Klassenmusizieren, ein ausschließlich in die Ferne schweifender, sich interkulturell gebender Musikunterricht, aber auch die Verselbstständigung und eine zunehmende Selbstbezüglichkeit musikpädagogischer Forschung. Demgegenüber fordert er die fachlich profunde Rückbesinnung auf Werke europäischer Musikgeschichte und die auf intensivem Hören basierende Auseinandersetzung mit dieser „Exzellenzmusik“ in Form von Ausdrucksanalysen.
    Eine stärkere Beschäftigung mit Komponistinnen und Musikerinnen mahnt Elisabeth Treydte in ihrem Beitrag an. Noch immer sind Schulbücher und Materia­lien für den Musikunterricht in ihren Darstellungen sehr weit von einer paritätischen Geschlechterperspektive entfernt, obwohl die musikwissenschaftliche Forschung im Hinblick auf das Leben und Wirken von Komponistinnen und Musikerinnen in den vergangenen Jahrzehnten erheblich vorangekommen ist und entsprechende Archive aufgebaut hat. Allerdings findet das akademische Wissen noch längst nicht genügend Eingang in den Musikunterricht. Die von der Autorin vorgestellten Internet-Portale und ihr eigenes digitales Bildungspaket versuchen an dieser Stelle den Brückenschlag zwischen akademischem Forschungsstand und schulischem Unterricht.
    Darüber hinaus erwartet Sie in vorliegendem Heft ein vergleichsweise umfangreicher Magazinteil mit einer Reihe von Tagungsberichten und Rezensionen von Neuerscheinungen in unserem Fach.

     

    Rebekka Hüttmann, Oliver Krämer, Annette Ziegenmeyer
     

bottom of page