Liebe Leser:innen,
die Idee zu diesem Heft geht auf die Wintertagung der AG Schulmusik vom Anfang des Jahres 2020 zurück. Als eine der letzten Zusammenkünfte in Präsenz fand sie vom 16.–18. Januar 2020 an der Hochschule für Musik und Theater Rostock statt. Im Zentrum der Auseinandersetzung stand dort das Thema Konstruktion von Fachlichkeit in den Lehramtsstudiengängen Musik. Dabei sollte es auch um den Austausch der Musikpädagogik mit der Musikwissenschaft und Musiktheorie gehen und um die Frage, wie die Schwesterndisziplinen gemeinsam zum Aufbau des Fachverständnisses von Studierenden beitragen können. Fachliche Fortentwicklungen in der Musikwissenschaft und Musiktheorie kamen in diesem Rahmen ebenso zur Sprache wie Anregungen, was das veränderte Fachverständnis innerhalb der Bezugsdisziplinen für die Fachlichkeitsvorstellungen zukünftiger Musiklehrender bedeuten könnte. Aus den Impulsen der Wintertagung sind nun, zwei Jahre später, die ersten drei Beiträge dieses Heftes hervorgegangen.
Isolde Malmberg eröffnet das Thema mit einem Überblick über den Diskussionstand in der Allgemeinen Fachdidaktik und den einzelnen Fachdidaktiken. Entscheidend ist die Einsicht, dass Schulfächer keine feststehenden Entitäten, sondern dass Fachlichkeitsvorstellungen in hohem Maße Konstrukte sind, die zwischen den Beteiligten ausgehandelt werden. Im Anschluss vollzieht Yvonne Wasserloos die kulturwissenschaftliche Wende nach, die das Fachlichkeitsverständnis der historischen Musikwissenschaft zuletzt entscheidend beeinflusst hat. Ihr Beitrag macht deutlich, dass in der Abkehr von der reinen Werkorientierung eine Chance für die intradisziplinäre Zusammenarbeit mit der Musikpädagogik liegt. In ähnlicher Weise blickt Benjamin Lang zunächst auf das Fach Musiktheorie und beschreibt Wandlungsprozesse, die sich vor allem an der zunehmenden Institutionalisierung und der binnenfachlichen Ausdifferenzierung festmachen lassen. Gemeinsamkeiten mit der Musikpädagogik sieht er vor allem in einem stärker kompositionspädagogischen Verständnis seines Faches.
Auch Werner Jank, Julia Lutz und Alexis Kivi gehörten zu den Teilnehmenden der damaligen Wintertagung und wurden deshalb für dieses Heft als Autor:innen angefragt. Werner Jank erinnert in seinem Beitrag daran, dass Fachpraktiken ein entscheidendes Konstituens für das Zustandekommen von Schulfächern sind und gerade im Fach Musik mit den ihnen eigenen, historisch gewachsenen Vermittlungsformen eine wesentliche, wenn nicht sogar die zentrale Rolle spielen. Fachlichkeitsvorstellungen wirken zudem in die Planung, Inszenierung und Analyse von Unterricht hinein und müssen sich im konkreten Unterrichtsgeschehen immer aufs Neue als tragfähig erweisen. Julia Lutz beleuchtet in ihrem Beitrag die Thematik der Fachlichkeit aus der Perspektive der Grundschule und zeigt, wie Vorstellungen von der Ausrichtung des Grundschulfachs auf sehr diverse Bildungsbiografien und Berufswege der Menschen zurückzuführen sind, die in der Grundschule Musik unterrichten. Vor diesem Hintergrund problematisiert sie am Ende auch den Begriff des fachfremden Unterrichts. Denn egal, wie die berufliche Vorbildung der Lehrenden aussieht: Es ist Unterricht im Fach Musik – ohne Wenn und Aber. Zur Frage nach der Fachlichkeit gehört letztlich auch die entgegengesetzte Denkrichtung der Grenzüberschreitung hin zu anderen Fächern bzw. hin zur ungefächerten Wirklichkeit. In diesem Sinne beleuchtet Alexis Kivi Öffnungsperspektiven des Faches vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher Herausforderungen wie der Globalisierung, der Digitalisierung und der Klimakrise, die nach einer Antwort der schulischen Bildung und der einzelnen Fächer verlangen.
Das Fachliche, Fachübergreifende und Fächerverbindende ist ebenfalls Gegenstand eines längeren Textes von Christoph Richter aus dem Jahr 1996, der bislang lediglich in Manuskriptfassung vorlag. Auszüge aus diesem Text haben wir auf einer Doppelseite im Heft zusammengestellt. Der umfangreiche Gesamttext ist als Online-Beitrag nun im Rahmen dieser Ausgabe erstmals veröffentlicht.
Ergänzt wird das aktuelle Heft durch drei freie Beiträge. Die Tatsache, dass die Digitalisierung die Art und Weise, wie wir Musik wahrnehmen und gestalten, zumindest ergänzen, wenn nicht gar grundlegend wandeln wird, ist Ausgangspunkt für den Beitrag von Matthias Handschick, in dem er angesichts sich verändernder musikalischer Gestaltungspraxen über ästhetische Urteilsbildung im Musikunterricht nachdenkt. Sein Text ist ein Plädoyer dafür, ästhetische Fragestellungen im Unterricht zu thematisieren, den ästhetischen Streit nicht zu scheuen und als Lehrende durchaus Position zu beziehen. Sabine Schneider-Binkl beschreibt in ihrem Text die Bedeutung interdisziplinärer Perspektiven für die Grundlegung eines eigenen neuen Forschungsprojekts, das sich mithilfe biografischer Interviews dem Einfluss musikbezogener Praxis auf die Identitätsentwicklung im Jugendalter widmet. Im abschließenden Beitrag setzen sich Isabelle Sophie Heiss und Elisabeth Scharnick mit dem Spannungsfeld von Nähe und Distanz im Instrumentalunterricht auseinander. Ihr Text zielt darauf ab, näher zu beleuchten, was in dieser sogenannten Grauzone passiert, und übergriffigem Handeln in musikalischen Lehr-Lernsituationen wirksam vorzubeugen.
Rebekka Hüttmann, Oliver Krämer, Annette Ziegenmeyer
DMP 93: Konstruktion von Fachlichkeit
Konstruktion von Fachlichkeit
- Isolde Malmberg
Fachlichkeit und Fachlichkeitskonstruktionen - Yvonne Wasserloos
“Knowing Music“ versus ”Making Music”?
Überlegungen zur Intradisziplinarität von Musikwissenschaft und Musikpädagogik - Benjamin Lang
Musiktheorie heute
Eine fachliche Standortbestimmung - Christoph Richter
Die Frage nach dem Fachlichen
Auszüge aus: Das Fachliche, das Fachübergreifende und das Fächerverbindende (1996) - Werner Jank
Das Fachliche gibt es nur im Plural - Julia Lutz
Zwischen Erfahren und Erleben, Wissen und Können
Gedanken zur Fachlichkeit des Musikunterrichts in der Grundschule
Konstruktion von Fachlichkeit – Online-Beiträge
- Alexis Kivi
Öffnungen des Fachlichen im Musikunterricht
Bestehende Perspektiven und Neuinterpretationen der Idee des Fachübergreifenden - Christoph Richter
Das Fachliche, das Fachübergreifende und das Fächerverbindende (1996)
Freie Beiträge
- Matthias Handschick
„Gefällt mir“ / „gefällt mir nicht“
Über den Mangel an ästhetischem Streit in der Musikpädagogik, ein dreifaches kompositionspädagogisches Dilemma und kreative Studienbereiche mit digitalen Medien - Sabine Schneider-Binkl
Identitätsentwicklung, Musik und Adoleszenz
Perspektiven interdisziplinärer Betrachtungen für die Musikpädagogik - Isabelle Sophie Heiss & Elisabeth Scharnick
Was passiert eigentlich in dieser sogenannten Grauzone?
Nähe und Distanz im instrumental- und gesangspädagogischen Alltag
- Isolde Malmberg